So sitze ich, alleine, in der letzten Reihe. Keine Familie, keine Ehre, nur eine alte Dame in einem puderblauen Kleid – meinem schönsten – auch wenn es genauso gut aus Sackleinen sein könnte. Vorne weigert sich Brandon, mein einziger Sohn, mir auch nur in die Augen zu sehen. Nicht, wenn er zustimmend zu den grausamen Worten seiner Frau nickt, nicht jetzt, wenn ich mich zwischen Reihen lachender, flüsternder Gäste schleppe, gekleidet in Designeranzügen und Seidenkleidern, die mehr kosten als meine monatliche Rente.
Dann setzt sich plötzlich ein Mann in einem anthrazitfarbenen Anzug neben mich. Ein cremiger Geruch von Eau de Cologne und eine ruhige Zuversicht überkommen mich. Seine Uhr funkelt. Seine Haltung schreit nach Macht… Er beugt sich zu mir, seine Stimme ist leise und warm. “Tu so, als wärst du bei mir.”
Bevor ich antworten kann, gleitet er mit seiner Hand über meine. Seine Haptik ist sicher, elegant und unglaublich intim. Und plötzlich ändert sich alles.
Das Gemurmel in den Reihen vor uns hört nicht auf, aber es ändert sich. Der Ton wechselt von Mitleid zu Verwirrung, von Ekel zu Intrige. “Wer ist bei Brandons Mutter?” Ich höre jemanden pfeifen.
Vor dem Altar blickt Brandon zurück. Er sieht mich. Er sieht die Hand des Mannes auf meiner. Seine Augen weiten sich. Vivien, die ihre Aufmerksamkeit abgelenkt fühlte, folgte ihrem Blick. Sein Kiefer verkrampft sich, seine makellose Porzellanmaske reißt leicht. Es ist das erste Mal an diesem Tag, dass mein Sohn mich ansieht.
“Lächle”, sagte der geheimnisvolle Mann mit sanfter Stimme in mein Ohr. “Lächle, als hätte ich gerade etwas Kluges gesagt.”
Also mache ich es. Ich drehe mich zu ihm um und schenke ihm ein aufrichtiges und warmes Lächeln. Und vor mir wurde Brandon blass.
“Wer bist du?”, flüstere ich mit klopfendem Herzen.
Er lächelte sie an, ein natürliches und schrecklich charmantes Lächeln. “Jemand, der schon vor langer Zeit ein Teil deines Lebens hätte sein sollen”, sagt er. “Wir reden nach der Zeremonie.”
Nach der Zeremonie steht mein mysteriöser Begleiter auf und bietet mir seinen Arm an, wie ein Herr aus einem Schwarz-Weiß-Film. »Wollen wir gehen, meine Liebe?« fragte er. Er kennt meinen Namen. Ich nehme seinen Arm. Ich sollte es nicht, aber ich tue es. Und plötzlich fühle ich mich gesehen.
Die Köpfe drehen sich um, als wir uns auf den Weg zum Partyzelt machen. Plötzlich bin ich nicht mehr die peinliche Stiefmutter. Ich bin das Rätsel, die Frau, die von einer schönen und kraftvollen Begleiterin begleitet wird.
“Du hast mir nie deinen Namen gesagt”, sage ich, während wir über den gepflegten Rasen gehen.
Er lächelt, wieder dieses warme und niederschmetternde Lächeln. “Blackwood. Theodore Blackwood. Aber du hast mich Theo genannt. »
Die Welt steht Kopf. Der makellose Rasen, das Streichquartett, das Klirren der Gläser… All dies verblasst in einem dumpfen Grollen. Theo. Mein Theo. Der Junge, den ich liebte, bevor ich Brandons Vater heiratete. Derjenige, der vor fünfzig Jahren für ein Sommerpraktikum nach London ging und nie zurückkehrte. Der Junge, von dem ich nie aufgehört habe zu träumen.
“Du hättest eigentlich in Europa sein sollen”, sagte ich mit geflüsterter, fassungsloser Stimme.
Er führt mich in eine ruhige Ecke des Gartens, fernab von neugierigen Blicken. »Ich habe nie geheiratet, Elener«, sagte er leise. “Und ich habe nie aufgehört, nach dir zu suchen.”
Ich habe Höhenangst. Ich fühle mich, als wäre ich 18 und 68 Jahre alt. “Aber ich… Ich habe geheiratet”, flüstere ich und spreche damit das Offensichtliche, die große und tragische Realität meines Lebens aus. “Ich hatte einen Sohn. Ich habe mir mein Leben aufgebaut. »
“Du bist weg”, sage ich, und die alte, vergrabene Anschuldigung steigt an die Oberfläche, bevor ich sie stoppen kann.
Sein Gesicht verfinsterte sich. “Ich habe dir Briefe geschrieben, Elener. Dutzende. Ich bin zweimal zurückgekommen. Du warst umgezogen. Deine Mutter… Er beißt den Kiefer zusammen. “Deine Mutter hat mir erzählt, dass du mit Robert verlobt bist und nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Du hast meine Briefe nie erhalten, nicht wahr? »
Und plötzlich fügten sich die Puzzleteile meines Lebens mit ekelerregender Klarheit zusammen. Meine Mutter. Meine stolze und kritische Mutter, die Theo nie gemocht hatte, die immer sagte, er sei “zu reich” und “zu ehrgeizig” für ein Mädchen wie mich. Die Frau, die mich so freundlich ermutigt hatte, Robert zu heiraten, den “sicheren und zuverlässigen”, kurz nach Theos Verschwinden.
“Sie hat sie weggeworfen”, flüstere ich, und die Worte schmecken nach Asche. “Sie hat sie alle abgefangen.”
“Ich habe es geahnt”, Theos Kiefer biss sich zusammen. “Ich habe 1978 Privatdetektive angeheuert, aber Sie waren schon verheiratet. Brandon war geboren. Ich habe die Anzeige 1989 gesehen. Zwei Jahre, Elener. Das ist alles. Wenn ich dich zwei Jahre früher gefunden hätte, wäre unser Leben anders verlaufen. »
Er greift in seine Tasche und zieht einen abgenutzten und gefalteten Zeitungsausschnitt heraus. Es ist die Hochzeitseinladung. Vivien und Brandon lächeln über die Social-Media-Seiten. “Ich habe ihn letzten Monat gesehen”, sagt er. “Ich wusste, dass du es warst. Ich kam, um ruhig hinten zu sitzen, um die Frau zu sehen, die du geworden warst. Aber als ich sah, wie sie dich behandelten… als ich sah, wie sie dich in die letzte Reihe stellten… Ich konnte nicht schweigen. »
“Mama, wir müssen reden. Sofort… Brandons Stimme hallt wie ein Schleudertrauma durch den Garten. Er stürzt auf uns zu, Vivien auf den Fersen. Ihr ehelicher Glanz ist dahin. Sie sehen panisch aus, fast verängstigt.
Vivien wirft Theo einen durchdringenden und misstrauischen Blick zu. “Wer ist dieser Mann?”
Theo tritt vor, seine Präsenz strahlt eine Ruhe aus, die sie beide überwältigt. “Theodore Blackwood. Und ich bedeute deiner Mutter viel. »
Viviens Gesicht erstarrte. “Was für eine Geschichte?”, fragt sie mit einer Stimme, die sowohl hoch als auch sanft ist.
Theo wirft mir einen fragenden Blick zu und ich nicke. Er antwortet ohne zu zögern. “Die Art von Liebe, die alles verändert. Deine Mutter und ich waren verliebt, lange bevor sie deinen Vater kennenlernte. »
Die Luft gefriert. Ich sehe den Gesichtsausdruck meines Sohnes verzerrt: Schock, Verwirrung und vielleicht sogar einen Hauch von Verrat. Als ob die Vorstellung, dass ich, seine Mutter, ein Leben, eine Leidenschaft, eine Vergangenheit vor ihm hätte, irgendwie beleidigend wäre.
