Ein scheinbar gewöhnlicher Nachmittag im September 2002: Ana Morales verließ ihr Haus, um Milch zu kaufen, und kehrte nie zurück. Das Viertel Santa María im Nordosten von Monterrey war 2002 ein Viertel, in dem die Türen tagsüber offen standen.
Kinder spielten unbeschwert auf den Straßen, und Mütter kannten einander beim Vornamen – ein Ort, an dem das Verschwinden eines Nachbarn sofort zum Problem für die gesamte Gemeinschaft wurde. Gerade diese Atmosphäre der Nähe und gegenseitigen Aufmerksamkeit machte es undenkbar, dass jemand spurlos verschwinden könnte.
Ana Morales war in dieser Gegend aufgewachsen, seit sie fünf Jahre alt war, als María Teresa dorthin zog, nachdem sie sich vom Vater ihrer Kinder getrennt hatte. Das Familienhaus lag an einer ruhigen Ecke der Juárez-Straße; es war ein bescheidenes Zweizimmerhaus, in dem María Teresa Heilpflanzen anbaute, die sie auf dem lokalen Markt verkaufte, um ihr Einkommen als Hausangestellte aufzubessern.
Mit 19 Jahren hatte Ana eine zurückhaltende, aber verantwortungsbewusste Persönlichkeit entwickelt. Sie verbrachte ihre Nachmittage am liebsten damit, ihrer Mutter im Haushalt zu helfen, auf Wunsch Kleidung für Nachbarn zu nähen oder sich um ihre jüngeren Geschwister, den 15-jährigen Jorge und die 12-jährige Patricia, zu kümmern.
Ihr Tagesablauf war vorhersehbar und beruhigend für eine alleinerziehende Mutter, die lange außer Haus arbeitete. Ana stand früh auf, um das Frühstück für die Familie zuzubereiten. Sie begleitete ihre Geschwister zur Schule, erledigte anschließend den Haushalt und widmete sich nachmittags Nähprojekten, die ihr ein zusätzliches Einkommen einbrachten.
Die Nachbarn beschrieben sie als ernsthafte, fleißige junge Frau, die stets höflich grüßte, sich aber nicht an Nachbarschaftsklatsch oder Streitigkeiten beteiligte. Sie war der Typ Mensch, der spurlos verschwand, ohne Spekulationen über heimliche Liebschaften, hohe Schulden oder versteckte Feindschaften auszulösen. María Teresa hatte sich in den fast 15 Jahren, die sie dort wohnte, einen guten Ruf in der Nachbarschaft erworben. Sie arbeitete als Haushaltshilfe für drei Familien der Mittelschicht und reinigte große Häuser mit der Akribie, die sie in ihrer Kindheit gelernt hatte.
Das Einkommen war nicht üppig, reichte aber aus, um ihre Kinder zu ernähren, zu kleiden und ihnen eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Ihre Beziehung zu Ana war besonders eng. Als ältestes Kind und einziges Mädchen in der Familie hatte Ana schon früh mütterliche Verantwortung für ihre Geschwister übernommen. María Teresa vertraute ihr nicht nur im Haushalt, sondern auch als Vertraute und emotionale Stütze.
„Ana ist meine rechte Hand“, pflegte María Teresa den Nachbarn zu sagen. Ohne sie wüsste sie nicht, wie sie alles allein bewältigen sollte. Diese gesunde gegenseitige Abhängigkeit machte es für Ana völlig undenkbar, freiwillig das Elternhaus zu verlassen. Sie wusste um die finanziellen Schwierigkeiten ihrer Mutter.
Sie wusste, dass Jorge und Patricia ständiger Aufsicht bedurften und verstand, dass ihre Abwesenheit María Teresa in eine verzweifelte Lage bringen würde. Der 18. September 2002 begann wie jeder andere Dienstag im Hause Morales. María Teresa verabschiedete sich wie schon seit Jahren um 6:30 Uhr von ihren Kindern. Sie küsste Ana auf die Stirn, ermahnte sie, gut auf ihre Geschwister aufzupassen, und versprach, vor 19:00 Uhr zurück zu sein.
Es war das letzte Mal, dass sie ihre Tochter frei in ihrem eigenen Haus umherlaufen sah. Der 18. September verlief normal bis 16:30 Uhr, als Ana bemerkte, dass nicht genug Milch da war, um den Kaffee mit Milch zuzubereiten, den Jorge und Patricia als Zwischenmahlzeit tranken.
Es war eine Kleinigkeit, aber eine, die sofort gelöst werden musste. Ana legte ihr Nähprojekt beiseite. Sie nahm 20 Pesos von dem Geld, das María Teresa für die Tagesausgaben zurückgelegt hatte, und ging zur Haustür. „Ich hole schnell Milch bei Don Aurelio“, rief sie ihrem Bruder Jorge zu, der im Garten spielte. „Ich bin in zehn Minuten wieder da.“ Jorge winkte abwesend.
Später sollten dies die letzten Worte sein, die er 15 Jahre lang von seiner Schwester hörte. Don Aurelios Laden lag vier Blocks vom Morales-Haus entfernt, an einer belebten Ecke, wo drei Linien des öffentlichen Nahverkehrs zusammenliefen. Es war ein Familienbetrieb, der die Bewohner des Viertels Santa María seit über 20 Jahren versorgte.
Ana kannte den Weg von ihrem Haus zum Laden bestens. Sie war ihn schon hunderte Male gegangen, Tag und Nacht, ohne jemals Sicherheitsprobleme gehabt zu haben. Don Aurelio erinnerte sich später, dass Ana gegen 17:15 Uhr in seinem Laden ankam. Sie kaufte einen Liter Vollmilch, bezahlte mit einem 20-Peso-Schein und erhielt 8 Pesos Wechselgeld. Der Kauf dauerte weniger als drei Minuten, und Ana zeigte keinerlei Anzeichen von Besorgnis.
Sie wirkte wie immer, sagte Don Aurelio Wochen später den Behörden. Sie grüßte, kaufte die Milch, fragte nach dem Befinden meiner Frau und verabschiedete sich freundlich. Laut mehreren Zeugenaussagen von Nachbarn verließ Ana den Laden gegen 17:00 Uhr und ging ihren üblichen Heimweg.
Drei Personen bestätigten, sie in den ersten zwei Minuten der Fahrt gesehen zu haben: Frau Maldonado, die vor ihrem Haus fegte; Raúl Ibarra, ein junger Mann, der auf den Bus wartete; und Carmen Soto, ein Mädchen, das am Tor ihres Hauses spielte.
Alle waren sich einig, dass Ana eine Plastiktüte mit Milch trug, in normalem Tempo ging und offenbar nicht verfolgt wurde. Dennoch kam Ana Morales nicht nach Hause. Jorge machte sich um 17:30 Uhr Sorgen, als seine Schwester nach fast einer Stunde Abwesenheit noch nicht zurückgekehrt war – für eine Aufgabe, die normalerweise nur zehn Minuten dauerte. Patricia kam um 18:00 Uhr von der Schule nach Hause und fragte sofort nach Ana.
Um 6:30 Uhr beschloss Jorge, zu Don Aurelios Laden zu fahren, um nach seiner Schwester zu suchen. Er fand den Laden normal geöffnet vor, aber Don Aurelio bestätigte, dass Ana vor über einer Stunde dort gewesen und dann wieder verschwunden war.
Jorge ging vorsichtig die vier Blocks zwischen dem Laden und seinem Haus ab, suchte die angrenzenden Straßen ab, fragte Nachbarn und erkundete sogar den kleinen Park, in dem sich gelegentlich junge Leute trafen. Er fand weder eine Spur von Ana noch von dem Liter Milch, den sie gekauft hatte. Seine Sorge wuchs zur Besorgnis, als María Teresa um 19:00 Uhr von der Arbeit zurückkam und Jorge und Patricia mit besorgten Gesichtern auf sie warten sah.
„Wo ist Ana?“, fragte María Teresa als Erstes, als sie ihre jüngsten Kinder allein im Haus sah. „Wir wissen es nicht, Mama“, antwortete Jorge mit zitternder Stimme. Sie war um 17 Uhr Milch kaufen gegangen und nicht zurückgekehrt. María Teresa fühlte sich, als ob die Welt um sie herum stillgestanden hätte. In den 15 Jahren, die sie im Viertel Santa María lebte, in den 19 Jahren, die sie ihre Tochter kannte, war Ana noch nie spurlos verschwunden.
